Gesangskunst, Sekt und Butterbrezeln
Chornacht in der Reutlinger Marienkirche mit sechs Vokalensembles - Wechsel von
geistlicher und weltlicher Musik
Zu jeder vollen Stunde ein neuer Musikgenuss: Die offene Chornacht dieser Tage in
der Marienkirche mit fünf Vokalensembles fand regen Zuspruch.
SUSANNE ECKSTEIN
Reutlingen. "Bitte keine Getränke mit in die Kirche nehmen" diese Aufforderung wurde
weitgehend befolgt: keiner wanderte mit Sektglas und Butterbrezel durch die voll besetzten
Reihen der Kirchenbänke.
Die offene Konzeption nach dem Vorbild von Museums- oder Kneipennacht erlaubte zwar
prinzipiell ein beliebiges Kommen und Gehen: doch das Marienkirchen-Publikum hielt sich an
die Konzert-Usancen und nutzte die jeweils etwa 20-minütigen Pausen zwischen den fünf
Programmblöcken zum Ankommen und Aufbrechen um ein Schwätzle zu halten oder sich im Vorraum
leibliche Labung,sprich, leckeres Gebäck und Getränke zuzuführen.
Für geistig-geistliche Labung sorgten die Chöre mit einem großen "mehrchörigen" Programm,
das die Fähigkeiten der Chöre im besten Licht zeigte, die Spannweite des Chorgesangs
auffächerte, sowohl weltliche wie religiöse Werke umfasste und auch inhaltlich gut
abgestimmt war. Den Grundtenor bildete der spannungsreiche Wechsel zwischen geistlichen
und weltlichen Aspekten.
Als ersten Programmblock hatten die Chorleiter Eberhard Becker und Michaela Frind das
"Gloria" und "Credo" aus Dvoráks Messe in D-Dur (in der ursprünglichen Fassung mit Orgel)
mit Brahms' "Fest- und Gedenksprüchen" kombiniert. Zwar kamen die Mess-Sätze für die
Zuhörer von hinten, nämlich von der Empore, doch die harmonische Verbindung des
doppelchörigen Chorklangs mit der stilgerecht romantisch registrierten Orgel kam so
auf bezwingende Weise zur Geltung.
Menschliches und Göttliches im Hohelied
Brahms' achtstimmiges Meisterwerk, nach dem das Publikum geradezu zum Aufstehen
aufgefordert werden musste - solch fesselnde Musik braucht wohl doch Zeit und Ruhe.
Mit fast professioneller Chorkunst wartete das von Eberhard Becker geleitete Reutlinger
Bach-Ensemble auf; die geballte Ausdruckskraft und die prägnante entschiedene Gestaltung
von Bachs Choralmotette "Jesu meine Freude" hätte glatt für ein eigenes Konzert gereicht,
Dvoráks leichfüßig dargebotene, romantische Chorlieder "In der Natur" erschienen nach so
viel Kraft und Tiefe geradezu harmlos.
Für die Spannung zwischen Kunst und Religion, Menschlichem und Göttlichem steht auch das
"Hohelied" der Bibel, das der Reutlinger Kammmerchor unter Christa Feige als Zentrum
seines "Wie bist du doch schön" überschriebenen Chornacht-Beitrags mit Lesung gewählt
hatte.
Wäre diese Ambivalenz durchaus darstellbar gewesen, entschieden sich die Rezitierenden
Sabine und Peter Behge doch für eine nüchtern-religiöse Deutung - der Vortragston der
Wechselrede erlaubte keine poetische Nuancierung der bildreichen Texte.
Diese blieb der Musik vorbehalten: Zwar unter leichten Intonationsschwankungen, doch
insgesamt einfühlsam und transparent führte der Kammerchor vor, auf welch unterschieliche
Weise sich Komponisten verschiedener Epochen von den erotischen Texten zu harmonisch
farbigen, meditativen, tänzerisch schwingenden oder prachtvoll mehrchörigen Vertonungen
hatten inspirieren lassen.
Wer danach (wieder) dazustieß oder noch dableiben wollte, konnte ab zehn "leichtere"
Chor-Kost mit dem Jazz-Ensemble unter Manuela Frind genießen und um elf bei einer
gemeinsamen Nachtmusik der Chöre und einem Abendgebet die lange Chornacht ausklingen
lassen.
Mit freundlicher Genehmigung der Südwestpresse